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Wenn man
nicht für ein entsprechendes „Vorprogramm“ gesorgt hat, heißt
das, sich gegen 21 Uhr nochmal von seinem Sofa zu erheben, ein
wenig „fein“ zu machen und - wie in meinem Fall – die rund 30
Minuten Fußweg auf die andere Mainseite zurückzulegen. Noch
schnell die an ihrem östlichen Ende nicht unbedingt einladende
Einkaufsstraße Zeil zu überqueren und dann einzutauchen in diese ganz
besondere Welt an diesem ganz besonderen Ort.
 
Entree
und Blick in den Saal
Die Jacke
wird an der Garderobe abgegeben, dann geht es zum Einlass in den
Theaterraum. Nach der Kartenkontrolle übernimmt der Service und
platziert die Gäste im Saal mit seinen bis zu 190 Plätzen. Die
runden Tische mit den fast schon legendären Lampen darauf
verteilen sich über mehrere Ebenen, sodass für gute Sicht
gesorgt ist. Eine ganz besondere Perspektive bietet der Balkon
mit einem großen Sofa in der ersten und Tischen in der erhöhten
zweiten Reihe. Egal, wo man seinen Platz gefunden hat, der
Service erfüllt aufmerksam und schnell die Getränkewünsche.
  
Anna
Krämer
Bevor sich
der Vorhang mit dem markanten Tigerkopf, dem Logo des
Unternehmens, das erste Mal öffnet, setzt sich das vierköpfige
Varieté-Orchester auf seinem Balkon an die Instrumente und sorgt
für die musikalische Einstimmung. Das Quartett spielt in
wechselnden Besetzungen, aber akustischer Hochgenuss ist immer
garantiert. Dies natürlich den ganzen Abend über. Dann wird es
dunkel im Saal und das Spotlight geht an. Darin steht unsere
Gastgeberin Anna Krämer. Mit „Imagine“ von John Lennon eröffnet
die Sängerin und Entertainerin die Show. Dank ihrer ganz eigenen
Interpretation holt sie uns endgültig aus der realen Welt ab,
die derzeit manchmal schwer zu ertragen ist. „Imagine all the
people livin' life in peace“ heißt eine Zeile des Songs. Dass
Menschen unterschiedlichster Nationen friedlich zusammenarbeiten
können, beweist der Tigerpalast in der inzwischen 37. Saison.
Und auch diese Internationale Varieté-Revue 2025/26 holt wieder
Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Teilen der Erde
nach Frankfurt am Main. Einige bleiben die gesamte Spielzeit bis
zum 1. März 2026 im Programm, andere sind nur zeitweilig dabei.
Die Homepage informiert über die jeweils aktuelle
Zusammensetzung, kleinere Überraschungen nicht ausgeschlossen.
Drei Sängerinnen und ein Wortakrobat wechseln sich als
Conferenciers ab.
  
Semyon
Krachinov, Simone Al Ani, Alex & Barti
Anna
Krämer geleitet uns wunderbar durch den späten Abend. Mit
hinreißenden eigenen Versionen bekannter Lieder und charmanten
Moderationen. Dafür begibt sie sich auch auf Tuchfühlung mit dem
Publikum im Saal. Als ersten Artisten kündigt sie uns Semyon
Krachinov an. Der Jongleur gewann beim European Youth Circus
2006 „Silber“ in der höheren Altersklasse sowie den Preis des
Tigerpalasts. 19 Jahre später ist er also einmal mehr auf dessen
Bühne zu Gast. Ein Wirbelwind wie eh und je, spielt der Jongleur
mit großer Leichtigkeit mit seinen Bälle und Keulen. Jeweils bis
zu sieben davon lässt er gleichzeitig virtuos durch die Luft
fliegen. Mindestens genauso faszinierend wie die bloße Anzahl
sind die Touren, die er mit einer geringen Anzahl seiner
Requisiten arbeitet. Für die Keulen nutzt er dafür neben den
Händen auch die Füße. Dazu gibt es viel Personality. Ohne die
geht es hier ohnehin nicht, denn das Publikum darf die Kunst aus
nächster Nähe verfolgen. Ruhiger und geheimnisvoller wird es,
wenn Simone Al Ani seinen Auftritt hat. Er manipuliert einen
Ring und mehrere Glaskugeln. Was er genau macht, vor allen
Dingen, wie er es macht, bleibt mysteriös. Ungläubiges Staunen
auch bei Alex & Barti. Barti ist eine Marionette, die von Alex
Jorgensen so virtuos gespielt wird, dass man tatsächlich den
Eindruck hat, hier zwei Menschen in Interaktion zu erleben. Das
Spielkreuz mit den vielen durchsichtigen Fäden daran ist
natürlich offensichtlich. Die Bewegungen, die damit erzeugt
werden, hält man hingegen nicht für möglich. Barti bewegt etwa
einzelne Finger und seine Schultern. So beweist er sich als
Pianist und Gitarrist. Ganz nebenbei schubst er seinen
Puppenspieler umher. Wunderbar, den Künstler aus Kopenhagen und
seinen kleinen Partner wieder einmal hier erleben zu dürfen.
 
Linda
Sander, Duo Luna
Vor dem
Auftritt von Alex & Barti verwöhnt uns Anna Krämer mit ihrer
Version vom durch Oleta Adams bekanntgewordenen Lied „Get Here“.
Bei der nun folgenden Interpretation von „Route 66“ bahnt sich
die Sängerin einen Weg durch den Zuschauerraum. Einige der
Tische und Stühle erhalten danach einen anderen Ort. Genauso wie
Teile des Publikums, die sich kurzerhand auf der Bühne
wiederfinden. Dieser Umbau hat hier Tradition und schafft an
diesem Abend den notwendigen Platz für zwei Luftnummern. Den
Anfang macht Linda Sander. Sie legt einen starken Auftritt am
Vertikalseil hin. Über den Köpfen der Zuschauer zeigt sie in
Ruhe akrobatische Posen und sorgt bei Wirbeln sowie rasanten
Bewegungsabläufen Richtung Boden für schweißnasse Hände bei den
Gästen. Diese würde es schon ordentlich Kraft kosten, das Seil
überhaupt hinaufzuklettern. Wenn die Übung überhaupt
gelingen würde. Linda Sander hingegen schafft dies mit
spielerischer Leichtigkeit. Das
Duo Luna hatte ich zuletzt
beim Wereldkerstcircus im großen Theater Carré gesehen und
ordentlich Mühe gehabt, sie mit dem Teleobjektiv einzufangen.
Jetzt zeigen Marina Luna und ihre neue Partnerin Julia Katharina
Wutte ihre Akrobatik am Luftring quasi genau vor meiner Nase. So
hautnah erlebt man Varieté- und Circuskunst eben im Tigerpalast.
Für die Artisten bedeutet das, dass jede Bewegung, die gesamte
Mimik genau wahrgenommen wird. Damit geht das Duo Luna natürlich
so souverän um wie alle anderen Mitwirkenden. Bei ihrem ersten
Engagement in diesem Haus begeistern die Artistinnen mit ihren
waghalsigen Tricks in der Luft und lassen uns bei schönen
Bildern träumen.
  
Simone
Al Ani, Albina & Andrei, Marko Karvo
„A Million
Dreams“ lässt uns Anna Krämer träumen. Das Stück aus dem
Soundtrack zum Film „The Greatest Showman“ wird vom Publikum
begeistert gefeiert. Zu verständlich, weil einfach hinreißend
gesungen. Und natürlich ebenso fantastisch durch das
Varieté-Orchester begleitet. Die Augen sind beim Wiedersehen mit
Simone Al Ani gefragt. Im schwarzen Outfit lässt er vor
schwarzem Hintergrund zwei weiße, S-förmige Gebilde zwischen
seinen Fingern rotieren. So entstehen immer wieder neuartige
Gebilde. Albina (Zinnurova) und Andrei (Sokolov) kommen
ursprünglich vom Sport und sind inzwischen im Showbusiness zu
Hause. Das Duo kombiniert Hand-auf-Hand-Akrobatik mit gewagten
Sprüngen. Bei letzteren wirbelt Andrei seine Partnerin in die
Luft und fängt sie nach beneidenswert kontrollierten
Flugsequenzen sicher wieder auf. Ganz einfach sieht es auch aus,
wenn er Albina auf einem Arm trägt. Sie macht oben wahlweise
einen Standspagat oder einen einarmigen Handstand. Das Ganze
wird ungemein sympathisch und mit viel Lebensfreude zelebriert.
Auch die Schlussnummer gehört einem Paar. Statt
Körperbeherrschung stehen hier Fingerfertigkeit und
Geschwindigkeit im Vordergrund. Für den Zuschauer ist es pure
Illusion, wenn Marko Karvo mit Unterstützung von Gattin Vanessa
Tauben und Papageien in den verschiedensten Varianten scheinbar
aus dem Nichts hervorzaubert. Und das eben auf so engem Raum,
dass ihnen das Publikum genau auf die Finger schauen kann. Aber
die Gäste haben keine Chance, den Tricks auf die Schliche zu
kommen. Einer der prächtigen Aras darf sogar eine Runde durch
den Saal fliegen. Auch Kostümillusionen und das Zerreißen einer
Zeitung, die am Ende doch nicht kaputt ist, gehören zum
Repertoire. Zauberkunst auf höchstem Niveau, in höchster
Vollendung präsentiert. Vanessa stammt übrigens aus Frankfurt,
während Marko Karvo in Finnland zur Welt kam. Im traditionellen
Finale verabschiedet sich das gesamte Ensemble. |