Nicht zum ersten Mal entführt der Friedrichsbau
damit in die Zeit der 1920er Jahre, als auf die Not des Ersten
Weltkriegs eine Phase des Aufschwungs, der Entwicklung von Demokratie
und Gleichberechtigung und auch der rauschenden, exzessiven Partys
folgte. Regisseur Ralph Sun hat dabei – wie zumeist für seine
Winterproduktionen – kein typisches Nummern-Varieté geschaffen, in dem
mehrere artistische Darbietungen durch eine Conférence verbunden werden.
„Noir“ ist vielmehr eine große Revue, in der Tanz, Musik und Gesang
sowie kabarettistische Moderationen und auch erotischer Kitzel breiten
Raum einnehmen. Sie haben damit mindestens den gleichen Stellenwert wie
die artistisch-akrobatischen Bestandteile. Die Bühne mit mehreren
beleuchteten, hintereinander angeordneten Portalen, goldfarbenen
Vorhängen, Stufen hinauf zum Podium für den schwarzen Flügel und in
wechselnden Farben erstrahlendem Hintergrund bietet den stilvollen und
schön ausgeleuchteten Rahmen.
Kristina Kruttke, Bevan-Revuegirls
Zunächst eröffnen die fünf Revuegirls aus dem
Hause Bevan mit ihrem Tanz in gold-schwarzen Charleston-Kostümen die
Vorstellung. Im Hintergrund amüsieren sich zwei Herren in schwarzem Frack
bzw. Smoking mit ihren Drinks. Als „Dompteuse des Abends“
begrüßt uns Kristina Kruttke. Die Sängerin, Kabarettistin und mondäne
Grande Dame kündigt an, alle ihre „wilden Tierchen“ präsentieren zu
wollen. Damit will sie die Vielfalt der Farben vor die Augen der Besucherinnen
und Besucher führen. In der Tat erwartet uns ein ausgesprochen
diverses, freies, multikulturelles Ensemble. Da bietet der Song „Lovebirds“
– von Kristina Kruttke mit starker Stimme live gesungen und von Sascha
Kommer am Flügel begleitet – den passenden Kommentar. Mehrfach
interpretiert Kruttke Klassiker wie „Big Spender“ in einer Fassung mit
deutschem Text. Mit ihr wurde wieder einmal ein neues Gesicht für eine
Friedrichsbau-Show gefunden, nachdem es in den vergangenen Jahren viele
Stammgäste bei der jeweiligen Conférence gab.
Duo
Balkanica, Ballett und Sascha Kommer, Ben Finch-Brown
Den ersten artistischen Beitrag des Abends liefert
das Duo Balkanica, Yordan Pudev und Svetlana Nikolova, mit seiner
Kaskadeur-Nummer. Voller Temperament und Fröhlichkeit begeistern die
beiden bei ihren Kabinettstückchen auf und unter einem Tisch und ernten
dafür viel Applaus. Als begehrter „Hahn im Korb“ findet sich Pianist
Sascha Kommer wieder, wenn ihn die Ballettgirls bei einem sinnlichen
Tanz in schwarzer Wäsche und roten, halbtransparenten, offen getragenen
Blusen umringen. Ben Finch-Brown zelebriert bei seiner Luftring-Kür
Kraft und Beweglichkeit, Überschläge und Kreiseldrehungen. Dies
alles geschieht in einem Kostüm, auf dessen hautfarbenen Grund ein Netz aus roten
Arterien und blauen Venen appliziert ist.
Edgar Falzar,
Fanny di Favola, Kai Hou
Die Burlesque-Künstlerin Fanny di Favola widmet
ihren ersten Auftritt der legendären Berliner Tänzerin und
Schauspielerin Anita Berber, die Kokain und Cognac verfallen war und –
frei von jeglichen Hemmungen – oftmals komplett nackt auftrat. Ihren Schönheitstanz beginnt
di Favola fast unbekleidet, inmitten der in Nachthemden gekleideten
Ballettgirls. Sie lässt sich das ihr zunächst angelegte Korsett nicht
aufzwängen und entscheidet sich dafür, einen schwarzen Smoking
anzuziehen – so wie auch Anita Berber als erste Frau gilt, die
öffentlich einen Smoking trug. Kaum weniger gewagt ist das Outfit von
Edgar Falzar, der im pinken Minirock, mit halterlosen Damenstrümpfen und
in Pumps jongliert. Um den rechten Arm und das rechte Bein lässt er
Ringe kreisen, weitere Ringe schickt er mit der linken Hand auf Touren
durch die Luft. Dabei balanciert er zwei Spiegelkugeln auf Stäben –
gehalten mit Kopf und Mund – und einen großen Ball auf dem rechten
Zeigefinger. Zur Gesangsnummer „I wanna be loved by you“ räkelt sich
Kristina Kruttke auf dem Klavier, Pianist Sascha Kommer spielt dazu mit
nacktem Oberkörper, und die Ballettgirls tanzen teils in Herren-, teils
in Damen-Outfits. Ohne skurrile Note, aber stark ist die Arbeit
von Kai Hou als Reifenspringer. Dabei erreicht er
beeindruckende Höhen und bringt den asiatischen Touch ins Programm. Im
Hintergrund klatscht das Ensemble enthusiastisch zur aufpeitschenden
Musik und feuert den Artisten an. Immer wieder schießen Nebelsäulen aus
dem Boden, und die Stimmung im Publikum kocht. Damit geht es in die
Pause.
Ballett, Kai Hou, Fanny Favola
Hälfte zwei beginnt so wie die erste begonnen hat,
mit einem beeindruckenden Auftritt von Kai Hou, nunmehr am doppelten
chinesischen Masten. Mit gewagten Sprüngen bewegt er sich zwischen den
zwei Stangen hin und her. Hinzu kommen Abfaller und Kräfte zehrende
Posen. Kai Hou war im Friedrichsbau bereits für die Produktion „TOLLhouse“
vorgesehen, die jedoch aufgrund des ersten Corona-Lockdowns im März 2020
schon nach einer Woche abgebrochen werden musste. Für knisternde Erotik sorgen anschließend Fanny Favola, die sich in ihrer zweiten Burlesque-Nummer kunstvoll ihres edlen
orientalischen Outfits entledigt, und im Anschluss die Damen des
Balletts. Sie umgarnen den Pianisten bei einem sinnlichen Tanz auf
Stühlen. So wird immer wieder die sündige Stimmung aus dem urbanen
Nachtleben der 1920er Jahre aufgegriffen.
Duo
Balkanica, Edgar Falzar, Duo Little Finch
Bei der kraftvollen Partnerakrobatik des Duos
Balkanica hat die meiste Zeit die Partnerin die tragende Rolle, während
der männliche Teil Yordan Pudev den Schlusstrick übernimmt – den
Handstand auf einem sich bedrohlich nach links und rechts biegenden
Schwert. Irgendwann im Laufe des zweiten Programmteils erscheinen die
Plaudereien von Kristina Kruttke in Martinilaune („Ich tue im
Stundentakt Dinge, um so auszusehen“) dann doch etwas ausführlich. Doch
diese Gedanken sind schnell wieder vergessen. Dann nämlich, wenn Edgar Falzar einen der gewagtesten Acts beisteuert, die wir in den vergangenen
15 Jahren im Friedrichsbau gesehen haben. Falzar jongliert zunächst
recht klassisch mit großen und kleinen Bällen. Doch nach dem Wechsel zu
den Keulen rutschen ihm erst die Hosenträger, dann Hose und Unterhose
herunter. Minutenlang währt die freie Sicht auf seinen Penis, bis er –
weiterhin jonglierend! – die Bekleidungssituation wieder in den Griff
bekommt. Bisher hat er diese außergewöhnliche Nummer offenbar nur in
kleinen Clubs gezeigt. Hier wird sie erstmals in einem Saal mit mehr als
200 Plätzen dargeboten. Schallendes Gelächter, Johlen und sicher auch
manch verstörter Blick sind der Lohn. Regelrecht züchtig ist dagegen der
nachfolgende Auftritt der charmanten Ballettgirls in goldenen Kostümen.
Doch zum Abschluss wird es noch einmal richtig verrucht, wenn Ben
Finch-Brown und sein Ehemann Jonathan Luftakrobatik am still hängenden
und später kreisenden Anker zeigen. Kunstvolle Figuren zelebrieren die
beiden Artisten. Ihre Kostüme erinnern an eine Kombination von Ganzkörper-Tattoos und äußerst knapper Fetisch-Wäsche, ergänzt
um „weibliche“ Frisuren und Make-ups. „Liebe ist die Basis des Lebens,
unabhängig von Geschlecht, Kultur und Konventionen“, kommentiert
Kristina Kruttke diese vom Publikum bejubelte Darbietung – und gibt den
Gästen die Botschaft mit auf den Weg, sie mögen leben und lieben, wie
sie wollen. Im anschließenden Finale zaubert das Ballett in herrlichen
roten Federboa-Kostümen nochmal wundervolle Bilder auf die Bretter, die
die Welt bedeuten. |