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Friedrichsbau-Varieté - "Noir"
www.friedrichsbau.de - 135 Showfotos

Stuttgart, 18. Dezember 2021: Mit seiner glanzvollen Wintershow trotzt das Friedrichsbau-Varieté Stuttgart der aktuellen Situation. Auch wenn vorweihnachtliche Betriebsfeiern reihenweise abgesagt wurden, auch wenn Pandemie-bedingt nur die Hälfte der Sitzplätze im Theatersaal belegt werden darf: „Noir – Nächte der 20er Jahre“ wirkt keine Spur wie ein Sparprogramm. Es ist vielmehr ein kostbarer Juwel mit großem Ensemble, ausgefeilter Inszenierung und edel gestalteter Bühne.

Nicht zum ersten Mal entführt der Friedrichsbau damit in die Zeit der 1920er Jahre, als auf die Not des Ersten Weltkriegs eine Phase des Aufschwungs, der Entwicklung von Demokratie und Gleichberechtigung und auch der rauschenden, exzessiven Partys folgte. Regisseur Ralph Sun hat dabei – wie zumeist für seine Winterproduktionen – kein typisches Nummern-Varieté geschaffen, in dem mehrere artistische Darbietungen durch eine Conférence verbunden werden. „Noir“ ist vielmehr eine große Revue, in der Tanz, Musik und Gesang sowie kabarettistische Moderationen und auch erotischer Kitzel breiten Raum einnehmen. Sie haben damit mindestens den gleichen Stellenwert wie die artistisch-akrobatischen Bestandteile. Die Bühne mit mehreren beleuchteten, hintereinander angeordneten Portalen, goldfarbenen Vorhängen, Stufen hinauf zum Podium für den schwarzen Flügel und in wechselnden Farben erstrahlendem Hintergrund bietet den stilvollen und schön ausgeleuchteten Rahmen.


Kristina Kruttke, Bevan-Revuegirls 

Zunächst eröffnen die fünf Revuegirls aus dem Hause Bevan mit ihrem Tanz in gold-schwarzen Charleston-Kostümen die Vorstellung. Im Hintergrund amüsieren sich zwei Herren in schwarzem Frack bzw. Smoking mit ihren Drinks. Als „Dompteuse des Abends“ begrüßt uns Kristina Kruttke. Die Sängerin, Kabarettistin und mondäne Grande Dame kündigt an, alle ihre „wilden Tierchen“ präsentieren zu wollen. Damit will sie die Vielfalt der Farben vor die Augen der Besucherinnen und Besucher führen. In der Tat erwartet uns ein ausgesprochen diverses, freies, multikulturelles Ensemble. Da bietet der Song „Lovebirds“ – von Kristina Kruttke mit starker Stimme live gesungen und von Sascha Kommer am Flügel begleitet – den passenden Kommentar. Mehrfach interpretiert Kruttke Klassiker wie „Big Spender“ in einer Fassung mit deutschem Text. Mit ihr wurde wieder einmal ein neues Gesicht für eine Friedrichsbau-Show gefunden, nachdem es in den vergangenen Jahren viele Stammgäste bei der jeweiligen Conférence gab.


Duo Balkanica, Ballett und Sascha Kommer, Ben Finch-Brown 

Den ersten artistischen Beitrag des Abends liefert das Duo Balkanica, Yordan Pudev und Svetlana Nikolova, mit seiner Kaskadeur-Nummer. Voller Temperament und Fröhlichkeit begeistern die beiden bei ihren Kabinettstückchen auf und unter einem Tisch und ernten dafür viel Applaus. Als begehrter „Hahn im Korb“ findet sich Pianist Sascha Kommer wieder, wenn ihn die Ballettgirls bei einem sinnlichen Tanz in schwarzer Wäsche und roten, halbtransparenten, offen getragenen Blusen umringen. Ben Finch-Brown zelebriert bei seiner Luftring-Kür Kraft und Beweglichkeit, Überschläge und Kreiseldrehungen. Dies alles geschieht in einem Kostüm, auf dessen hautfarbenen Grund ein Netz aus roten Arterien und blauen Venen appliziert ist.


Edgar Falzar, Fanny di Favola, Kai Hou
 

Die Burlesque-Künstlerin Fanny di Favola widmet ihren ersten Auftritt der legendären Berliner Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber, die Kokain und Cognac verfallen war und – frei von jeglichen Hemmungen – oftmals komplett nackt auftrat. Ihren Schönheitstanz beginnt di Favola fast unbekleidet, inmitten der in Nachthemden gekleideten Ballettgirls. Sie lässt sich das ihr zunächst angelegte Korsett nicht aufzwängen und entscheidet sich dafür, einen schwarzen Smoking anzuziehen – so wie auch Anita Berber als erste Frau gilt, die öffentlich einen Smoking trug. Kaum weniger gewagt ist das Outfit von Edgar Falzar, der im pinken Minirock, mit halterlosen Damenstrümpfen und in Pumps jongliert. Um den rechten Arm und das rechte Bein lässt er Ringe kreisen, weitere Ringe schickt er mit der linken Hand auf Touren durch die Luft. Dabei balanciert er zwei Spiegelkugeln auf Stäben – gehalten mit Kopf und Mund – und einen großen Ball auf dem rechten Zeigefinger. Zur Gesangsnummer „I wanna be loved by you“ räkelt sich Kristina Kruttke auf dem Klavier, Pianist Sascha Kommer spielt dazu mit nacktem Oberkörper, und die Ballettgirls tanzen teils in Herren-, teils in Damen-Outfits. Ohne skurrile Note, aber stark ist die Arbeit von Kai Hou als Reifenspringer. Dabei erreicht er beeindruckende Höhen und bringt den asiatischen Touch ins Programm. Im Hintergrund klatscht das Ensemble enthusiastisch zur aufpeitschenden Musik und feuert den Artisten an. Immer wieder schießen Nebelsäulen aus dem Boden, und die Stimmung im Publikum kocht. Damit geht es in die Pause.


Ballett, Kai Hou, Fanny Favola 

Hälfte zwei beginnt so wie die erste begonnen hat, mit einem beeindruckenden Auftritt von Kai Hou, nunmehr am doppelten chinesischen Masten. Mit gewagten Sprüngen bewegt er sich zwischen den zwei Stangen hin und her. Hinzu kommen Abfaller und Kräfte zehrende Posen. Kai Hou war im Friedrichsbau bereits für die Produktion „TOLLhouse“ vorgesehen, die jedoch aufgrund des ersten Corona-Lockdowns im März 2020 schon nach einer Woche abgebrochen werden musste. Für knisternde Erotik sorgen anschließend Fanny Favola, die sich in ihrer zweiten Burlesque-Nummer kunstvoll ihres edlen orientalischen Outfits entledigt, und im Anschluss die Damen des Balletts. Sie umgarnen den Pianisten bei einem sinnlichen Tanz auf Stühlen. So wird immer wieder die sündige Stimmung aus dem urbanen Nachtleben der 1920er Jahre aufgegriffen.


Duo Balkanica, Edgar Falzar, Duo Little Finch 

Bei der kraftvollen Partnerakrobatik des Duos Balkanica hat die meiste Zeit die Partnerin die tragende Rolle, während der männliche Teil Yordan Pudev den Schlusstrick übernimmt – den Handstand auf einem sich bedrohlich nach links und rechts biegenden Schwert. Irgendwann im Laufe des zweiten Programmteils erscheinen die Plaudereien von Kristina Kruttke in Martinilaune („Ich tue im Stundentakt Dinge, um so auszusehen“) dann doch etwas ausführlich. Doch diese Gedanken sind schnell wieder vergessen. Dann nämlich, wenn Edgar Falzar einen der gewagtesten Acts beisteuert, die wir in den vergangenen 15 Jahren im Friedrichsbau gesehen haben. Falzar jongliert zunächst recht klassisch mit großen und kleinen Bällen. Doch nach dem Wechsel zu den Keulen rutschen ihm erst die Hosenträger, dann Hose und Unterhose herunter. Minutenlang währt die freie Sicht auf seinen Penis, bis er – weiterhin jonglierend! – die Bekleidungssituation wieder in den Griff bekommt. Bisher hat er diese außergewöhnliche Nummer offenbar nur in kleinen Clubs gezeigt. Hier wird sie erstmals in einem Saal mit mehr als 200 Plätzen dargeboten. Schallendes Gelächter, Johlen und sicher auch manch verstörter Blick sind der Lohn. Regelrecht züchtig ist dagegen der nachfolgende Auftritt der charmanten Ballettgirls in goldenen Kostümen. Doch zum Abschluss wird es noch einmal richtig verrucht, wenn Ben Finch-Brown und sein Ehemann Jonathan Luftakrobatik am still hängenden und später kreisenden Anker zeigen. Kunstvolle Figuren zelebrieren die beiden Artisten. Ihre Kostüme erinnern an eine Kombination von Ganzkörper-Tattoos und äußerst knapper Fetisch-Wäsche, ergänzt um „weibliche“ Frisuren und Make-ups. „Liebe ist die Basis des Lebens, unabhängig von Geschlecht, Kultur und Konventionen“, kommentiert Kristina Kruttke diese vom Publikum bejubelte Darbietung – und gibt den Gästen die Botschaft mit auf den Weg, sie mögen leben und lieben, wie sie wollen. Im anschließenden Finale zaubert das Ballett in herrlichen roten Federboa-Kostümen nochmal wundervolle Bilder auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

Insgesamt bietet „Noir“ einen berauschenden Revue-Abend – musikalisch und tänzerisch, komisch und akrobatisch, sinnlich und ästhetisch, gewagt und provokant werden hier von Ralph Sun alle Register gezogen. Hinzu kommt der klare Appell, frei und tolerant zu leben. Bleibt zu hoffen, dass das Publikum sich von der Pandemie ebenso unbeeindruckt zeigt wie die Varieté-Macher und in möglichst großer Zahl zum Friedrichsbau kommt. Alle Verordnungen werden dort jedenfalls mustergültig umgesetzt, so dass man sich mit gutem Gefühl dem Geschehen auf der Bühne hingeben kann.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll