CHPITEAU.DE

20. Int. Circusfestival von Italien
www.festivalcircolatina.com ; 117 Showfotos ; 120 Showfotos

Latina, 17. bis 21. Oktober 2019: Voller Stolz wurde in diesem Jahr die 20. Ausgabe des „International Circus-Festival of Italy – City of Latina“ gefeiert. Dabei war es sicher nicht leicht, die Veranstaltung Jahr für Jahr auf die Beine zu stellen. 2017 musste sie entfallen, 2018 gab es eine Neuauflage. 2019 holte sich die Veranstalter-Familie Montico mit ihrer Associazione Culturale Giulio Montico die Russische Staatscircus-Organisation Rosgoscirc als Co-Produzentin an die Seite. Deren künstlerischer Leiter Gia Eradze übernahm die Festivalregie und steuerte drei große Produktionsnummern bei.

Das ist wohl Ausdruck von Eradzes Bestrebungen, auf dem westeuropäischen Circusmarkt weiter Fuß zu fassen. Obwohl er sowohl Regie führt als auch den Mitveranstalter Rosgoscirc vertritt, nehmen seine Nummern mitnichten außer Konkurrenz teil. Vielmehr werden sie von der international besetzten Jury unter dem Vorsitz von Mirella Iuliano mit einem neuen, über Gold stehenden „Platinum Grand Prix“ ausgezeichnet. Das kann man entweder grotesk oder geradezu genial finden. Denn auf diese Weise kann Eradze sich als Hauptgewinner fühlen, ohne dass die Vergabe der klassischen Gold-, Silber- und Bronze-Preise davon beeinflusst wird. Eine irgendwie salomonische Lösung. Bei seiner Nummer „The Veda“ steht ein männliches Quartett um Semen Marayshin mit Flügen am kreisrunden Reck im Mittelpunkt. Über ihnen schwebt eine Antipodistin auf einer Plattform, und in der Manege tanzen dazu die hübschen Ballettmädchen mit Blumenkränzen-Hüten – quasi ein „Drei-Manegen-Schauspiel“ in einen Roten Ring komprimiert. „Goldfish“ ist Eradze-Act Nummer zwei tituliert. Über einer Waterbowl schwebt ein Segelschiff. Daran zeigen Polina Rusinova und ihre Partnerin Netzakrobatik. Wenn das Schiff Richtung Boden schwebt, tauchen sie zwischendurch immer wieder für akrobatische Übungen ins Wasser ein. Das riesige Schiffsrequisit und die fantasievoll kostümierten „Meeresbewohner“, welche die Manege bevölkern, lenken mit so viel Schauwert ab, dass die Akrobatik zur Nebensache wird. Erst nach Minuten kommt mir in den Sinn, überhaupt darauf zu achten.


"Goldfish" und "The Veda" von Gia Eradze 

Mein Eradze-Favorit ist die Fasttrack-Trampolin-Nummer „Flags“. Mit ihr wird das multikulturelle Leben im Circus gefeiert. Die Akrobaten um Andrey Demyanenko und ihre Partnerin tragen Kostüme, auf denen jeweils die Flaggen mehreren Staaten zu sehen sind – und darüber Capes mit den Logos von Festivals, bei denen Eradze bereits vertreten war. Mitreißende Musik, zahlreiche Ballettgirls und viele Sprünge und Salti machen das Vergnügen perfekt. Während Eradze sich über Platin freuen darf, muss auch sonst keiner leer ausgehen, denn auch bei diesem Festival übersteigt bereits die Zahl der Sonderpreise die Zahl der Wettbewerbsbeiträge. Langjährige Besucher sind übereinstimmend der Meinung, dass dieses Latina-Programm das schwächste seit vielen Ausgaben ist. Offenbar mussten die Veranstalter im Vorfeld die Absage mehrerer geplanter Großattraktionen verkraften und kurzfristig umplanen. Das schlägt sich letztlich auch in der Preisvergabe nieder, bei der sich die Jury diesmal auf ein einziges „Gold“ beschränkt.


Marcello und Mario Spindler, Zhang Fan, Truppe Gerlings 

Dieses geht an Zhang Fan. Sein Können auf dem Schlappseil – mit Kopfüber-Fahrt auf dem Einrad oder Balancen auf dem bedrohlich weit schwingenden Seil – ist unerreicht. Ganz außergewöhnlich für einen chinesischen Künstler ist der offensive, mitreißende Verkauf. In der Kombination ist die Nummer Gold-würdig, freilich eher in der Kategorie „Lebenswerk“ denn „spannender Newcomer“. Silber ist der Lohn für die Jockeyreiterei der Familie Spindler. Die neunköpfige Truppe mit Marcello, Marlon, Alessandro, Mario jun., James und Chiara Spindler sowie Jastin Renz, Marlen Weisheit und Sarah Sperlich könnte zwar an der Leichtigkeit der Präsentation und der Ausstrahlung noch arbeiten. Dafür wagen die jungen Artisten sich erfolgreich an Höchstschwierigkeiten wie einen Rückwärtssalto mit Schraube aus dem Zwei-Mann hoch oder den Flic Flac mit direkt anschließendem Rückwärtssalto – jeweils von Pferd zu Pferd. Gerechtfertigt ist auch der Silberne Preis für die Truppe Gerlings (Kolumbien) auf dem Hochseil. Douglas Gerling hat unter seinem Namen schon einige Formationen an den Start geschickt. Diese dürfte eine der am sichersten agierenden sein. Zu den Highlights im Repertoire gehören die Pyramide mit drei Fahrrädern und natürlich die große Sieben-Personen-Pyramide.


Duo Cabaret, Deadly Games, Mariia Shevchenko 

„Deadly Games“ ist der treffende Titel für eine der spektakulärsten Messerwurf- und Kunstschützennummern unserer Zeit. Alfredo Silva (Brasilien), mit Irokesenschnitt und zahlreichen Tattoos, zielt bewusst haarscharf an seiner rassigen, geheimnisvoll-schönen Verlobten Aleksandra Kiedrowicz (Polen) vorbei. Wirft mit verbundenen Augen Beile knapp an ihr vorbei, von ihrer Stimme gelenkt. Zielt mit der Armbrust über die eigene Schulter, eine Smartphone-Kamera als Spiegel nutzend. Und wirft Messer auf einen rasant kreisenden Türrahmen, in dessen Mitte sie steht. Die Partnerin ist außerdem in einer Solo-Nummer am Luftring zu erleben. Darin beweist sie Wagemut und hohe Beweglichkeit. Ein weiterer Silber-Preis geht etwas überraschend an Mariia Shevchenko (Ukraine) für ihre Strapatennummer. Nicht nur das rote Kostüm, auch die Trickfolge lehnt sich sehr deutlich an die Arbeit von Anastasia Makeeva an. Hier wird deutlich, dass es für eine Spitzennummer nicht ausreicht, akrobatisch das Gleiche zu beherrschen, und sei es – wie bei Shevchenko – noch so anspruchsvoll. Hinzu müssen eine choreographische Raffinesse und grandiose Ausstrahlung kommen, die in diesem Fall nur das Original hat. Zu den spannendsten Entdeckungen des Festivals gehört das Duo Cabaret (Ukraine) mit seiner luftakrobatischen Nummer an 30 Schnüren. Serhii und Polina zelebrieren gefahrvolle Tricks, stimmungsvoll im Burlesque-Stil verpackt. Hierfür gibt es Bronze.


Duo Olivares, Fumagalli, Nicol Nicols 

Bei den weiteren Bronze-Preisen entscheidet die Jury sich für die bekanntesten, etabliertesten Namen im noch nicht prämierten Feld. Nicol Nicols (Spanien) beeindruckt einmal mehr mit Vorwärts- und Rückwärtssalto auf dem Drahtseil. Seine Partnerin Havi Havi begleitet ihn im Playback an der Violine. Nicols‘ Bruder Michael Olivares zeigt mit seiner Manegenpartnerin und Lebensgefährtin Helena Polach (Tschechien) Luftakrobatik an Seidentüchern und Strapaten. Damit übernimmt sie vielfach den tragenden Part. Diese Liebesgeschichte wirkt ein wenig gekünstelt, die begleitende italienische Ballade etwas monoton. Die Kritikerjury verleiht ihren Preis an Victor Moiseev. Er jongliert in der Dunkelheit horizontal mit bis zu neun fluoreszierenden Bällen. Sie hängen an Seilen. Mit zahlreichen Fängen und viel Tempo ein eindrucksvolles Spektakel, die Schaffung eines Planetensystems in der Manege. Außer Konkurrenz treten die „Special Guests“ Fumagalli mit Daris und Niko Huesca sowie Redi Montico an. Fumagalli und seine Partner werden für ihr Bienchen-Entree beim Heimspiel in Italien in jeder Vorstellung mit Standing Ovations gefeiert. Die groß angekündigte, neue Raubtiernummer von Redi Montico (Italien) ist bis zum Festival leider noch nicht ausgereift, so dass Löwenschaukel und schwarzer Panther nach der ersten Auswahlvorstellung gleich wieder herausgenommen werden. Aber doch wird deutlich, besonders in der zweiten besuchten Show, dass die Dressur mit jeweils drei weißen Tigern und Löwen (darunter ein männlicher) über großes Potenzial und dank der tollen Requisiten in der Form antiker Säulen über ein Alleinstellungsmerkmal verfügt. Gia Eradzes Ballett schafft als „Gladiatoren“ den passenden Rahmen. Beide Special Guests erhalten traditionsgemäß den Prix Giulio Montico.


Kimberley Zavatta, Kenyel Rodriguez, Christopher und Milena

Dass einem um den Nachwuchs im klassischen Circus nicht bange sein muss, beweisen Holler und Kimberley Zavatta (Italien) mit ihrer Rollschuh-Nummer. Die Eleven der Artistenschule von Verona arbeiten zur Live-Musik des famos spielenden Orchesters. Insgesamt könnte die viel beklatschte Nummer noch etwas mehr Tempo vertragen, wenngleich der schnelle Genickhangwirbel vollauf überzeugt. Für weitere Engagements empfiehlt sich Kimberley Zavatta mit ihrer Zweitnummer, einem dynamischen Strapaten-Act zu Michael Jacksons „Dirty Diana“. Eher dem zeitgenössischen Circus zuzurechnen sind Christopher und Milena aus Deutschland. Sie arbeiten an zwei Trapezen, die im 90-Grad-Winkel zueinander hängen. Mehrfach wechseln sie von einem Requisit zum anderen, um ihre Voltigen bis hin zum Salto zu präsentieren. Kenyel Rodriguez aus Kuba beschränkt sich auf der Rola Rola auf lediglich vier, dafür umso stärkere Tricks. Neu für uns ist, wie er – mit Fußschlaufen gesichert – auf dem Brett balanciert, die darunter gestapelten Zylinder zur Seite wegspringen lässt und auf dem untersten Zylinder landet. Spektakulär die 360-Grad-Drehung auf einem Turm aus sechs stehenden und zwei liegenden Zylindern. Vermissen lässt er leider jegliche Ausstrahlung.


Duo Paradise, Duo Unity, Duo Acrodream

Mit insgesamt acht Nummern liegt ein Schwerpunkt des Festivals auf Duos aus Mann und Frau. Das Duo Paradise (Ukraine) zelebriert seine Kombination aus Kontorsionen und Hand-auf-Hand-Akrobatik voller Sinn und Sinnlichkeit. Die erotische Nummer würde sich für eine Produktion wie „Ohlala“ perfekt eignen. Um ganz große Gefühle geht es auch beim kanadisch-deutschen Duo Unity. Im Cyrrad rotieren Francis und Lea gemeinsam, rasant, ausdauernd, vor Liebe und Glück strahlend. Die Bronze-Gewinner des Cirque de Demain, 2017 und 2018 im Moulin Rouge verpflichtet, hätten sich auch für einen der Hauptpreise empfohlen. Derzeit sind sie bei Conelli zu erleben. Als Goldmenschen im römischen Stil arbeitet das polnisch-spanische Duo Acrodreams, Tomasz und Fatina, klassische Hand-auf-Hand-Akrobatik. Der Stuhltrick, bei dem sich der Untermann aufrichtet und dabei die Partnerin Hand-auf-Hand trägt, wird hier mit dem Bogenschuss kombiniert. Walter Orfeo Nones Malachikhine, Enkel von Moira Orfei, drückt eindrucksvolle Handstände, leider in einem total misslungenen Kostüm. Das Für und Wider von Kindernummern lässt sich auch bei diesem Festival leidenschaftlich diskutieren: Die neunjährige Ukrainerin Sofia Tepla verbiegt sich bei ihren Extrem-Kontorsionen auf einer Schatzkiste. Danylo Strakhov, ein Muskelpaket mit zahlreichen Tätowierungen, zeigt Hand-auf-Hand-Akrobatik nicht mehr mit seinem ebenbürtigen Bruder Ilya, sondern als ungleiches Paar mit dem zehnjährigen Sohn Oscar.

Es mag bei früheren Ausgaben des Festivals stärkere Programme, größere Attraktionen gegeben haben. Doch auch 2019 ist in Latina, der 120.000-Einwohner-Stadt am Meer, 70 Kilometer südlich von Rom gelegen, echte Festivalatmosphäre geboten. Von außen wirkt das Acht-Masten-Chapiteau gewaltig. In seinem Inneren ist durch Abhängungen und einen gewaltigen, nach vorne gerückten Artisteneingang für eine sehr kompakte Atmosphäre gesorgt. Das hervorragende sechsköpfige Orchester unter der Leitung von Fabiano Giovanelli und das exzellente Licht tragen viel zum Vergnügen bei. Für die stilvolle Moderation ist Andrea Giachi zuständig. Und für einen besonders glanzvollen Auftakt in herrlichen Kostümen die unzähligen Ballettgirls von Gia Eradze.

________________________________________________________________________
Text: Markus Moll, Fotos: Tobias Moll