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Insgesamt wird
deutlich, dass das Unternehmen der Familie Richter zur
Spitzengruppe der reisenden Circusse in Europa gehört. Für uns
ist es das erste Mal, dass wir die neuen Zeltanlagen betreten –
beim traditionellen, zweimonatigen Sommergastspiel des Magyar
Nemzeti Cirkusz auf seinem eigenen Grundstück an der
Landesstraße M 7 im Familien-Urlaubsort Balatonlelle am Ufer des
Plattensees.
 
Der
Ungarische Nationalcircus mit neuen Zeltanlagen in Balatonlelle
Das Vorzelt ist
innen mit weißen Stoffbahnen dekoriert, das Ambiente einladend.
An den Verkaufsständen werden Getränke, eine Auswahl Snacks und
zahlreiche Souvenirs angeboten. Im Freien steht außer dem
bekannten Toilettenwagen nun auch eine neue Sanitäranlage in
einem Container mit 14 Kabinen für Frauen und Männer
gleichermaßen zur Verfügung.
  
Flaggenparade, Truppe Cheban, Jozsef Richter jun.
„Lendület“, zu
Deutsch „Schwung“, ist der Titel des aktuellen Programms. Er
verspricht nicht zu viel. Begleitet von bunten Lichterspielen
stimmt das fünfköpfige Orchester, das von Sängerin Imola Szábo
begleitet wird, die Ouvertüre an. Im festlichen Ambiente des
Hauptzeltes blicken wir auf sehr gut gefüllte Reihen rundherum.
Die Stimmung bei den Gästen mit einem Klatschspiel anzuheizen,
diese Aufgabe übernimmt zunächst Clown Christian Folco, der zum
zweiten Mal in Folge mit dem Ungarischen Nationalcircus auf
Tournee ist. Mit einer Flaggenparade stellt sich das Ensemble
vor. Schon beim Einlass steht das Requisit der Truppe Cheban
aufgebaut bereit, eine Russische Schaukel. Die vier Herren
nutzen diese für gewagte Sprünge bis unter die Kuppel, ob nun
beim Zweifachen mit Schraube, einem doppelten Rückwärtssalto
oder dem dreifachen Salto. Gelandet wird jeweils auf der Matte.
Dabei sind alle sichtlich mit Freude bei der Sache. Mit einer
neuen Tiernummer überrascht Direktor Jozsef Richter jun. Sechs
weiße Miniponys mit dunklen Punkten zeigen Lauffiguren wie in
einer Pferdefreiheit, steigen aber auch mit den Vorderbeinen auf
die Piste, drehen sich auf Postamenten, springen über Hürden und
durch Reifen oder wagen sich auf eine Wippe. Ebenso legen sie
sich zum „Schlafen“ ab, begleitet von einem Gute-Nacht-Lied.
Verschiedene Steiger bilden den Abschluss dieser Nummer, die
einem bestens bekannten Vorbild folgt. Im Hintergrund assistiert
Jozsef Richters Lebensgefährtin Ludmila Valla Bertini, die 2024
mit ihrer Antipoden-Nummer im Programm war. Ihre Eltern sind die Salvini-Clowns. Im Dezember erwartet das Paar sein
erstes Kind, einen Sohn.
  
Lusesita
Farrell, Rudi Althoff, Stefan Dvorak
Lusesita Farrell
ist eine höchst attraktive junge Frau mit strahlendem Lächeln.
Sie präsentiert sich zunächst mit einer Luftnummer an Ketten,
die sie wie Strapaten einsetzt. So wickelt sie sich daran auf
und ab, stürzt sich in einen Abfaller zum Fußhang oder schwebt
im Spagat. Sonderlich angenehm dürfte der Ersatz der üblichen
Stoffbänder durch Metall dabei nicht sein. Für einen Wow-Effekt
zum Abschluss ist gesorgt, wenn sie sich im Genickhangwirbel
dreht, in jeder Hand eine lange Fackel. Wir staunen über das
feurige Bild und spüren die Hitze auf der Haut. Tierlehrer
Alexandro Jostmann ist in dieser Saison vom reisenden Circus der
Familie Richter zu ihrem Safaripark gewechselt und bereitet dort
neue Pferdedressuren vor. Dafür ist erstmals Rudi Althoff mit
auf Tour. Bei seiner Hundenummer erleben wir ihn, wie wir ihn
kennen: als echte Rampensau. Mit seinem offensiven,
extrovertierten Auftreten reißt er jedes Publikum mit. Seine
drei Vierbeiner springen durch Reifen oder zwischen seinen Armen
hindurch, rollen sich am Boden, laufen Achten und bringen Hürden
hinter sich. Während Christian Folco auf seinen Fahrrad mit
zahlreichen Hupen eine Runde zwischen Loge und Tribüne dreht,
wird die Manege hergerichtet für den ersten artistischen
Höhepunkt des Programms. Diesen liefert der junge Österreicher
Stefan Dvorak, den wir mit seinem Rola-Rola-Act erstmals 2017
als Gast in einer Vorstellung des Circus Pikard und dort dann
2020 im regulären Saisonprogramm sahen. Das Autogramm von Eddy
Carello auf dem untersten Zylinder seiner Requisiten verrät gut
sichtbar, wer dort zu einem wichtigen Lehrmeister für ihn wurde.
Er arbeitet klassisch im blauen Anzug und zu „Rolling on a
River“. Unter anderem dreht er sich auf einem Turm aus fünf
stehenden und liegenden Zylindern, mit drei Keulen jonglierend,
um die eigene Achse. Nach der Balance auf sechs gestapelten
Bänken erntet er bereits rhythmischen Applaus, doch sein
Schlusstrick folgt erst noch: Er erklimmt einen beeindruckend
hohen Turm aus drei mal drei stehenden Zylindern mit zwei
liegenden Zylindern dazwischen und hält sich auf diesem fragilen
Konstrukt. Bravo!
 
Jozsef
Richter jun., Lusesita und Matteo
Nachdem Jozsef
Richter jun. in den vergangenen Saisons seinen großen,
schwarz-weißen Achterzug zeigte, gibt es in diesem Jahr keine
„komplette“ Pferdefreiheit. Den Dressurblock vor der Pause
leitet er stattdessen mit einem schwarzen Schulpferd am langen
Zügel ein. Darauf folgt eine flotte Laufarbeit von vier Kamelen,
deren braune Prunkdecken schön auf die edle Jacke des Vorführers
abgestimmt sind. Auf ihr prangen rechts seine Initialen RJ. Mit
drei Schimmeln und ihren temperamentvollen Steigern, in der
Gruppe und einzeln, findet die Nummer ihren Abschluss. Als
Star-Attraktion aus dem Cirque d’Hiver Bouglione kündigt
Moderator Réz Tamás die Polen Lusesita und Matteo an, die im
vergangenen Winter in dem Pariser Circusbau engagiert waren.
Auch in Ungarn ist es ihre Aufgabe, mit ihrer Perche-Akrobatik
den zweiten Programmteil zu eröffnen. Nicht nur ihre Kostüme
erinnern an den Kinofilm „Greatest Showman“, das Paar zeichnet
sich auch durch eine gehörige Portion Showmanship aus. Zunächst
dreht sich Matteo einmal um sich selbst, während seine Partnerin
sich am oberen Ende einer hohen Schulterperche auf einer
schmalen Plattform im Spagat befindet. Später übersteigt er eine
Leiter, während sie auf einer Stirnperche balanciert. In
spektakulärer Weise dreht sie sich zum Abschluss im
Genickhangwirbel um eine Perchestange, die er in einem
Beckengurt trägt.
 
Christian
Folco, Truppe Cheban
Seinen größten
Auftritt hat Christian Folco gemeinsam mit vier Herren aus dem
Publikum, die er zu einer „Rockband“ formiert. Bis Michael
Jacksons „Beat it“ gespielt werden kann, kommt es zu einigen
amüsanten Zwischenfällen – beispielsweise, wenn einer der
Mitspieler mit dem ersten Schlag das Trommelfell der Pauke zum
Reißen bringt. Außer ihrer Nummer an der Russischen Schaukel hat
die Truppe Cheban noch eine weitere, originelle Darbietung mit
nach Ungarn gebracht. Dabei schlagen die Moldawier auf großen
Reifen sitzend Salti. Mal wird einer nach einem der Sprünge in
einer Hand-auf-Hand-Position gefangen, mal lässt sich einer von
Reifen zu Reifen katapultieren. Auch Seilspringen gehört zum
Repertoire, und schließlich schlägt einer der Artisten einen
Rückwärtssalto mit dem Reifen, der von zwei Kollegen in einer
Handvoltigen-Position gehalten wurde.
  
Jozsef
Richter jun. und mongolische Reiter
Im Indianerkostüm
leitet Christian Folco über zur Schlussnummer. Nachdem die
Jockeyreiterei der Truppe von Jozsef Richter im ungarischen
Folklore-Stil jahrelang ein Fixpunkt der Programme war, werden
wir nun in den Wilden Westen entführt. Die Titelmusik von „Bonanza“
begleitet ein neue Reiterbild, bei der das Dshigitenreiten
im Vordergrund steht. Der Mongole Orgilbold Batbaatar sowie eine
Landsfrau und ein Landsmann von ihm schießen nun mit Pfeil und
Bogen im vollen Galopp auf ein Ziel in der Manegenmitte. Ebenso
reiten sie in Kopfüber-Position seitlich am Pferd oder im
Stehen. Noch eindrucksvoller wird es mit Jozsef Richters Salto
von Pferd zu Pferd oder wenn – nun wieder von den Mongolen – um
den Hals eines Pferdes geklettert wird oder Orgibold Batbaatar
sich in liegender Position unter dem Bauch eines Pferdes hält
und Logengäste abklatscht, während sein Partner oben quer auf
dem Sattel liegt. Drei Mann auf einem Pferd, mal sitzend und mal
liegend, gibt es zum Abschluss obendrein. Die im schönen
Programmheft genannten ikarischen Spiele des Duo Nishan aus Afrika
sind nicht zu sehen. Gewohnt ausgiebig zelebriert wird das
Finale, dies mit der Präsentation aller Mitwirkenden, mit Tanz
und Gesang. Hier findet sich auch noch Zeit für Jozsef Richters
ikonischen Trick, bei dem er als Stehendreiter die ungarische
Flagge schwenkt, über die Köpfe der Logengäste hinweg. |