Jede Monti-Produktion
beinhaltet auch eine bezaubernde Geschichte. Mal finden wir uns
auf dem Jahrmarkt (2019), mal in einer außergewöhnlichen Schule
(2021), mal gehen wir auf eine Reise durch die Wüste (2022) und
mal erleben wir, wie ein Künstler in seinem Atelier die verloren
geglaubte Kreativität wiederentdeckt (2023). Zumeist waren die
Handlungsstränge der letzten Saisons recht klar gezeichnet. Das
neue Konzeptions- und Regieteam – Ulla Tikka, ihr Lebensgefährte
Andreas Muntwyler und Gerardo Tetilla – hat sich diesmal für
einen etwas abstrakteren Ansatz entschieden. Für eine Abfolge
jeweils eher für sich stehender, lose zusammenhängender
Bilder, auch wenn zum Abschluss der Programmtitel ganz konkret
aufgegriffen wird.
Candice Bogousslavsky,
Davide Romeo und Mika Formunen, Ensemble
Heller, einladender, freundlicher
als bisher wirkt der Raum im Chapiteau beim Einlass. An drei
Traversen und einem Ring hängt die erneuerte Lichtanlage, an der
„Glühlampen“ Atmosphäre schaffen, während die Besucher ihre
Plätze aufsuchen. Alles ist vom Feinsten. Das von außen
liegenden Bögen getragene Zelt kommt ohne Sichtbehinderungen
aus, die Tribüne ist vollständig mit Klappsitzen ausgestattet,
die Lüftungsanlage schafft an diesem heißen Sommertag
erträgliche Temperaturen im ausverkauften Zelt. Ein raumhoher
Vorhang umgibt die Manege, und dahinter entfaltet sich zu
Programmbeginn ein Schattenspiel. Verschiedenste Figuren, von der Sängerin bis zum Jongleur, können wir dabei
entdecken. Im Opening lernen wir das Komikertrio kennen,
bestehend aus der „Tagträumerin“ Candice Bogousslavsky, die hier
neugierig zu den anderen stößt, und den beiden Gastgebern Davide
Romeo und Mika Formunen, zwischen denen sie steht. In einer
amüsanten Szene rund um eine Bar wirkt das gesamte Ensemble
feiernd mit.
Mario Muntwyler und Mika Formunen,
Davide Romeo und Candice Bogousslavsky, Mario Muntwyler
Eine abermals neue Variante
seiner Keulenjonglagen präsentiert uns Direktionssohn Mario
Muntwyler. Ihren besonderen Reiz erhält die Nummer in dieser
Saison durch die Mitwirkung des Komikers Mika Formunen. So
greift dieser zwischendurch in die Wurfmuster ein, um gemeinsam
zu jonglieren, oder er hält Mario Muntwyler die Augen zu,
während dieser ungerührt weiter seine Requisiten auf die Reise
durch die Luft schickt. Aufeinander balancierte Keulen sind
weiterhin eines von Muntwylers Markenzeichen. Als Candice
Bogousslavsky und Gastgeber Davide Romeo auf einem Tisch in der
Bühnenmitte ein Tänzchen wagen, werden sie von Mika Formunen
gestört, so wie man sich bereits im Opening neckte. Bei der
Artistin Sky Flow Artist (alias Kirstie Jarvis) ist der Name
Programm, denn in ihrem ersten Auftritt zelebriert sie einen
fließenden Tanz mit zwei Hula-Hoop-Reifen. Überraschend früh im
Programmablauf platziert wurde eines der großen Highlights der
Produktion. Davide Romeo kündigt die „alljährliche
Dauer-Dreh-Challenge“ an, für die er „drei mutige Freiwillige
aus dem Publikum“ sucht. Erstaunlicherweise hören die von ihm
ausgemachten Mitwirkenden alle auf den Namen „Muntwyler“, wie er
bei seiner Befragung feststellt. Und so liefern sich Circuschef
Johannes Muntwyler und seine beiden Söhne Tobias und Mario
einen äußerst amüsanten Wettbewerb
im Tellerdrehen. Dieser wird durch zusätzliche Herausforderungen ergänzt: erstens auf der Rola Rola durch einen Reifen steigen,
zweitens mit Löffeln, die vom Tablett in Gläser bugsiert werden,
und drittens mit dem Auffangen eines Glases auf einem Mundstab,
nachdem der zwischendrin befindliche Luftballon mit einer Nadel
zum Platzen gebracht worden ist. Die weiteren Artisten feuern
an, die Stimmung im Publikum ist enorm und letztlich ist es in
dieser Vorstellung Mario Muntwyler, der den Sieg erringt. In
einem herrlich nichtssagenden „Spieler-Interview“, wie man es
von Profi-Fußballern nach dem Abpfiff kennt, steht er Davide
Romeo nun Rede und Antwort. Es ist schön, die drei Herren
Muntwyler nach vielen Jahren wieder gemeinsam in der Manege
erleben zu können.
Nicole Martres,
Sasha Lindner, August Rohde Aass und Tobias Muntwyler
In einem ersten von mehreren
Auftritten demonstriert uns Nicole Martres auf fünf Handstäben
ihr equilibristisches Können, zum Teil auch nur auch nur auf
einen Arm. Die kompakte Nummer wird durch einen Spot ins rechte
Licht gerückt. Und es folgt eine weitere Solistin, wenn Sasha
Lindner mit scheinbarer Leichtigkeit das Vertikalseil erklimmt
und oben mit Posen, Wickelfiguren und Abfallern überzeugt.
Ruhig, aber dennoch akzentuiert ist die musikalische Begleitung.
Für seine Rückkehr in die Monti-Manege nach mehreren Saisons hat
Tobias Muntwyler es nicht bei der Mitwirkung beim Tellerdrehen
belassen, sondern eine neue Version seiner Diabolonummer
einstudiert. Immer noch beherrscht er das Spiel mit den übers
Seil tanzenden Doppelkegeln virtuos. Alleine lässt er bis zu
drei Diabolos fliegen, gemeinsam mit August Rohde Aass hält er
vier von ihnen in der Luft.
Candice Bogousslavsky, Lovisa
Wengerzink, August Rohde Aass und Simon Malmsten, Mario
Muntwyler
Besonders gelungen ist in
diesem Jubiläumsjahr das festlich wirkende Bühnenbild, das doch
tatsächlich als moderne Interpretation eines großen
Circus-Artisteneingangs verstanden werden kann. In der Mitte
befindet sich eine Treppe, links und rechts davon sitzen die
sechs Musiker unter der Leitung von Piotr Gunio auf jeweils drei
Ebenen, und eingerahmt wird das Bild von zwei geschwungenen
Rampen, die an elegante Showtreppen denken lassen. So ganz und
gar nicht elegant kämpft sich Candice Bogousslavsky in ihren
pinken Schuhen mit enorm hohen Absätzen die mittlere Treppe
hinab. 750 Augenpaare sind auf sie gerichtet, während sie
erfolglos versucht, ihre Unsicherheit zu verbergen. Mit den
hohen Schuhen jedenfalls kann Candice nicht fliegen, und das
überlässt sie nun zunächst einem Trio auf dem
Schleuderbrett. Lovisa Wengerzink und ihre männlichen Partner
August Rohde Aass und Simon Malmsten begeistern mit einem
Festival an hohen Sprüngen, Salti und Pirouetten, zu denen sie
sich gegenseitig in die Luft katapultieren. Zu Programmhälfte
zwei empfängt uns wieder ein kurzes Schattenspiel hinter dem
raumhohen Vorhang, bei dem wir Ring- und Keulenjonglagen
erkennen. Und sogleich tritt Mario Muntwyler ins Rampenlicht,
der sich erstmals an neue Jonglierrequisiten wagt, eben
orangefarbene Ringe. Zunächst lässt er fünf von ihnen fliegen
und kombiniert dies mit Pirouetten oder lässt sie während der
Wurfmuster auf den Boden bouncen, um sie wieder zu fangen und
weiter zu jonglieren. Schließlich hält er bis zu acht Ringe in
der Luft, wobei ihm am zweiten Tag der gerade begonnenen Saison der
ein oder andere Patzer noch nicht erspart bleibt.
Ensembleszenen,
Nicole Martres und
Candice Bogousslavsky
In einer der Ensembleszenen,
die für jedes Monti-Programm prägend sind, kreisen einige
Artistinnen und Artisten auf Hoverboards über die Bühne,
bekleidet mit weißen, innen beleuchteten Reifröcken – ein Bild
wie bei einem festlichen Ball. Auch auf Hoverboards, aber
Tabletts jonglierend mischen sich die beiden Komiker unter sie.
Candice Bogousslavsky hat ihren nächsten Einsatz bei der
folgenden Nummer von Nicole Martres. Die Clownin kann hier immer
noch nicht fliegen, doch ihre Bühnenpartnerin tut es, am eigenen
Zopf hängend, wobei sie von Candice in Schwingungen und
Drehungen versetzt wird. Auch ein Wirbel gehört zu der
Darbietung, deren Genre für Monti neu und unerwartet ist.
Zugleich wird die oft traditionell verpackte Disziplin hier auf
erfrischend-fröhliche Weise neu interpretiert. „Was ist
Realität?“ Dieser Frage widmet sich Clown Mika Formunen, ehe er
sich schnell in einen Kampf gegen die Tücke des Objekts, hier in
Form seines Mikrofons, verwickeln lässt. Das Bühnenbild mit den
Stufen und Rampen mit Showtreppen-Flair kommt zu vollen Ehren,
als es von den Clowns zu komischen Zaubereien nach
Großillusions-Art und vom Artistenensemble zu einem großen Tanz
im Revuestil genutzt wird.
Sky Flow Artist,
Nicole Martres,
Marie Binda und Ole Dampe
Ernsthafter wird es wieder,
als Sky Flow Artist nunmehr fünf Hula-Hoop-Reisen um Arme,
Rumpf und Beine kreisen lässt. Dabei steht sie auf einem Tisch
in der Bühnenmitte, die Reifen leuchten im abgedunkelten Zelt.
Ein stimmungsvolles, zauberhaftes Bild. Der Tisch kommt gleich
nochmal zum Einsatz: Das Komikertrio bringt darauf eine Persiflage auf
die „schwebende Jungfrau“. Freilich sind es hier die
Herren, die es mit dem Schweben – pardon: fliegen – versuchen,
doch leider klappt es immer noch nicht so richtig. Hand auf Hand
arbeiten Marie Binda und Ole Dampa, dies inmitten der sich um
die Bühne drehenden Bahnen des Schattenspiel-Vorhangs und
gemeinsam mit Kollegen des Schleuderbrett-Acts. Ein effektvolles
Bild, zu dem auch noch musikalische Überraschungen hinzukommen.
Denn der so typische, verträumte Stil der Monti-Musik wird in
diesem Jahr von modernen Sounds ergänzt, die an einen Club
erinnern. Die vielseitige Nicole Martres verblüfft nach
Handstand und Zopfhang auch noch mit ihrem kontorsionistischen
Können, dies im heiteren Widerstreit mit zwei „Krokodilen“,
dargestellt von auf Hoverboards gestützt liegenden
Ensemblemitgliedern in geschuppten Kostümen. Und dann ist es
soweit! Nach mehreren Anläufen im Laufe der Show gelingt Candice
und Mika Formunen aus unserem sympathischen Komikertrio
tatsächlich das Fliegen, an dünnen Drahtseilen schweben sie
durchs Zelt, angefeuert von Davide Romeo. So wird auch
Hand-auf-Hand-Akrobatik vermeintlich kinderleicht. In einer
Reprise seiner Darbietung lässt Tobias Muntwyler noch einmal ein
Diabolo auf einer langen Leine fliegen. Und dann folgt das, was
ansonsten in jeder Monti-Show Teil des Finales ist: ein
Vertreter der Familie Muntwyler richtet warme Worte ans
Publikum. Zum 40-jährigen Bestehen des Circus Monti tun Vater
Johannes und Sohn Mario es erstmals gemeinsam. Sie erinnern an
die Gründung des Circus 1985 und berichten, dass ihnen die
Geschichte ihres Unternehmens wie der Traum vom Fliegen
vorkommt. Ausgehend von dem großen Wagnis, sich von „privat“
kommend in diese Branche zu wagen, sei man in vier Jahrzehnten
vom bloßen „fliegen wollen“ inzwischen zum „fliegen können“
gelangt. Auch wenn sich seit 1985 viele Änderungen ergeben
haben, „die Liebe zum Circus bleibt erhalten“, formuliert
Juniorchef Mario Muntwyler. Und dann folgt die Schlussnummer,
die – wie könnte es anders sein – vom Fliegen handelt. Marie
Binda und Ole Dampe faszinieren bei ihrer Darbietung am
Fangstuhl, er als starker Porteur, sie als elegante Fliegerin.
Außer Hand- und Fußwechseln erleben wir auch höchst
anspruchsvolle Flugpassagen mit Salti. Kräftigen, begeisterten
Applaus erhält dieses Programm beim Heimspiel in Wohlen. Sicher
sind die Aargauer stolz auf dieses Unternehmen. Dessen äußeres
Bild strahlt durch absolute Sauberkeit und Gepflegtheit,
verzaubert mit nostalgischem Flair bei Traktoren und Wagenpark
und beeindruckt zugleich mit Modernität im klimatisierten Zelt
unter Bogenmasten. |