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Cirque Starlight - Tour 2022
www.cirquestarlight.ch ; 118 Showfotos

Porrentruy, 19. März 2022: Am Ende wird die Welt auf dieser Bühne eine fröhliche sein. Das scheint noch undenkbar, als die Vorstellung des Schweizer Cirque Starlight beginnt. Als eigentümliche Figuren mit geheimnisvollen Masken und weißen Rüschenkostümen erscheinen. Die einen riesengroß auf Stelzen, die anderen zwergenhaft klein. Nur der Wächter mit seinem hinkendem Bein und dem großen Gehstock trägt schwarz. In seiner Lampe scheint er die von ihm gefangenen Seelen der anderen zu sammeln, eingesperrt als kleine Lichter.

In seinem Ausguck hoch an einem der Masten des Chapiteaus singt er sein Lied – lange und ausdauernd. Gespielt wird er von dem Komiker und Sänger Renaud Monthoux. So düster und geheimnisvoll ist die Szenerie, die Regisseur Christopher D. Gasser und sein Kreativteam für den Auftakt von „Limbes“ geschaffen haben, der Produktion zum 35-jährigen Bestehen des Cirque Starlight. Christopher Gasser greift dazu die heute nicht mehr verfolgte, katholische Lehre des Limbus auf, der Vorhölle.


Geheimnisvoll-düstere Szenerie 

Dort befinden sich Seelen, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind, beispielsweise die Seelen ungetauft gestorbener Kinder. Christopher Gasser charakterisiert diesen Ort als „Reich des Vergessens“. Diejenigen, die hier leben, können uns nicht helfen, weil sie nicht mehr wissen, woher sie kommen oder wer sie sind. Deshalb wandern sie naiv, aber mitfühlend umher.


Aude Lavergne, Hanne Coeckelberghs, Marie France-Ouet und Francis-Olivier Girard

Nicht vergessen haben sie glücklicherweise ihre akrobatischen Fähigkeiten. Und so beeindruckt in diesen ersten Szenen des Programms Aude Lavergne mit ihrer Equilibristik auf vier Handstäben im Hintergrund der Szenerie. Hanne Coeckelberghs tut dies kurz darauf an elastischen Strapaten, dreht sich geradezu ekstatisch in der Luft, auch im Seitspagat. Dynamische Figuren, kraftvolles Aufwickeln an den langen Bändern und mutige Abfaller werden präsentiert. Erstmals erscheint im Hintergrund der Gondoliere mit seinem Boot, das über die Bühne gleitet. Der Steuermann ist ein unbekümmerter Clown, der sich an dem Gefährt erfreut, fröhlich auf der Gitarre spielt und selbst auf den Wächter unbefangen zugeht. Gespielt wird er überaus sympathisch und mit toller Mimik von Victor Rossi. Weit weniger unerschrocken ist das junge Mädchen, das nun diesen seltsamen Ort entdeckt, verkörpert von Justine Arden. Sie hat offenbar alles vergessen, kann auch nicht mehr sprechen. Sie weiß nur, dass sie nicht von hier ist und möchte weglaufen. Die fremden Wesen mit den weißen Masken reagieren freundlich. Sie zeigen der Besucherin ihre unterschiedlichen Charaktere, legen ihre Masken ab, möchten offenbar sogar helfen. Drei von ihnen – Marie France-Ouet, Maeva Desplat und Francis-Olivier Girard – zeigen ihr Können bei Akrobatik Hand-auf-Hand. Der Wächter reagiert wütend auf die freundliche Aufnahme, so dass alle außer dem Mädchen fliehen. Er möchte sie entführen, doch sie wird gerettet vom Clown auf seinem Boot. Gerne möchte er mit ihr sprechen, doch ihr fehlen weiterhin die Worte.


Leila Maillard, Saranzaya Solongo und Agiima Dashzeveg, Hanne Coeckelberghs 

Leila Maillard verschmilzt förmlich mit ihrem Vertikalseil, an dem sie sich hochwickelt, in das sie sich einwickelt, aus dem sie sich abwickelt. Denn auch dort, wo Circus zum Theater wird, sind die klassischen zirzenischen Fähigkeiten und eine gute Grundausbildung die Basis von allem. Und so entdeckt die stumme Frau bei ihrem Gefährten auf dem Boot etwas ganz Traditionelles, die musikalische Jacke – so wie wir sie auch von Victors Vater Maurin („Hector“) von den gefeierten Rossyann-Clowns kennen. Fasziniert beobachtet sie auch Saranzaya Solongo und Agiima Dashzeveg bei ihren schlangengleichen Kontorsionen. Nebeneinander, aufeinander und im Mundstand zeigen sie uns diese, während das Boot sie umrundet und Victor Rossi auf seiner Klarinette spielt. Das junge Mädchen fasst zunehmend Vertrauen in die fremde Welt. Damit geht es in die Pause. Zu Beginn des zweiten Teils wird Hanne Coeckelberghs in ihrem zweiten akrobatischen Auftritt von den maskierten Gestalten in ein weißes Tuch gehüllt. Es dient dann als Requisit für ihre Luftakrobatik, bei der sie mit Posen und Abfallern überzeugt.


Justine Arden und Victor Rossi 

Bei seiner weiteren Fahrt im Boot zeigt Gondoliere Rossi dem stummen Mädchen seine musikalischen Fähigkeiten auf Klarinette und Saxofon gleichzeitig. Nun nimmt das Programm eine vollkommen überraschende Wendung. Denn bis zu diesem Moment ist es von einer düsteren, ruhigen, geheimnisvoll-mystischen Grundstimmung geprägt. Der Wächter wittert natürlich eine Bedrohung. Doch was jetzt in den „Limbes“ ankommt, ist eine bunte, gut gelaunte Gauklertruppe. Sie bringt Fröhlichkeit und Tempo ins Programm, die den gesamten zweiten Programmteil anhält. Mit Sprachrohr, Pauke und Becken marschieren der Direktor (Francis-Olivier Girard) und seine beiden Artistinnen (Marie-France Ouet und Maeva Desplat) in bunten Circuskostümen ein und kündigen ihre große Schau an. Das genial einfache, geradezu raffinierte Bühnenbild wandelt sich ein weiteres Mal. Es besteht aus weißen Tüchern, die mit Seilzügen in immer neue Formen verändert werden können. Nun werden sie zum stilisierten Circuszelt geformt.


Victor Rossi,  Marie France-Ouet, Maeva Desplat und Francis-Olivier Girard, Justine Arden 

Vor dieser Kulisse dreht Maeva Desplat ihre Runden im Cyrrad. Gemeinsam mit Victor Rossi jongliert das Gauklertrio neun Keulen im Passing, Rossi selbst zeigt zudem sein formidables Können bei Jonglagen mit sieben Bällen sowie mit vier Keulen und einem Spazierstock. Das Trio begeistert nicht nur das stumme Mädchen und den Gondolieren mit seinen elegant gesprungenen Handvoltigen und kraftvoller Hand-auf-Hand-Equilibristik. Das Können reicht bis zum Drei-Personen-Hoch; das Publikum jubelt. Die Stimmung zum Höhepunkt bringt Victor Rossi nun mit seinem witzigen Xylophon-Spiel, bei dem zwei Helfer aus dem Publikum ihn unterstützen. Dank der bunten Circusschau findet das bislang stumme Mädchen zurück zu ihrem Bewusstsein, ihrer Stimme und Sprache. So befreit, geht sie in die Luft und beeindruckt mit ihren Ver- und Entwicklungen am Vertikaltuch. In die Luft entschwebt anschließend auch das Boot, mit dem sie sich aus den „Limbes“ befreit. Das Publikum im gut besuchten Chapiteau bedankt sich mit stürmischem Applaus.


Justine Arden und Victor Rossi mit Zuschauern 

Das Direktionspaar Jocelyne und Heinrich Gasser kann zum 35. Geburtstag seines Cirque Starlight voller Stolz auf das Geschaffene blicken. Am Stammsitz im Westschweizer Porrentruy betreibt die Familie seit Jahren eine öffentliche Tennishalle, die auch als beliebte Eventlocation dient. Nicht als Geschäftszweig, sondern ehrenamtlich wird die örtliche Circusschule geleitet. Hinzu kommt der Cirque Starlight, der in den ersten 15 Jahren mit traditionellen Programmen unterwegs war. Der ältere Sohn Johnny – mehrfach preisgekrönter Artist als Untermann am Russischen Barren – überzeugte seine Eltern dann davon, sich mit Programmen im Stil des „Cirque Nouveau“ ganz neu aufzustellen. Mit diesem Konzept reist die Familie nunmehr bereits seit 20 Jahren, wenngleich nur noch für drei Monate im Jahr und ausschließlich in der nach Frankreich orientierten Westschweiz. Dort zeigt das Publikum sich für diese Art der Unterhaltung, für zirzensisches Theater, aufgeschlossen. Auch Schulvorstellungen werden hier – nach behördlicher Prüfung der vorgelegten Regiekonzepte – in großer Zahl verkauft. Eine absolute Besonderheit ist nunmehr, dass seit dem Jahr 2019 kein externer Regisseur mehr engagiert worden ist. Vielmehr ist es der jüngere Sohn Christopher D. Gasser, der als Autor und Regisseur die dritte hochstehende Produktion in Folge für das elterliche Unternehmen geschaffen hat – in diesem Jahr gemeinsam mit einem Kreativteam für die technische Direktion (sein Bruder Johnny Gasser), Kostüme (Lorène Martin), Bühnenbild (Antonin Bouvret), Musik (Manuel Voirol) und Licht (Claude Bariteau). Letztere setzt gewiss nicht auf eine moderne Lightshow, sondern taucht die Bühne in ein stimmungsvolles Theaterlicht. Nach einem kurzen Blick ins Programmheft vor Beginn der Vorstellung ist es gut möglich, der jederzeit klar gezeichneten Handlung zu folgen, auch wenn die Dialoge in französischer Sprache sind. Selbst ohne dieses Verständnis wäre die Show ein Genuss, denn die wunderbar ins Geschehen eingeflochtenen artistischen Leistungen sind bestechend. Und die Show sieht einfach großartig aus, liefert wunderschöne Bilder. Beispielsweise bei den Bootsfahrten durch die Szenerie. Seit er die Larvenmaske der Basler Fastnacht entdeckt hat, sei es ihm ein Anliegen gewesen, diese einmal in einer Show zu verwenden, schreibt Christopher Gasser. Nun hat er einen Weg gefunden.

Die Familie Gasser macht immer wieder deutlich, dass sie ihren Cirque Starlight vollkommen revolutioniert hat, von traditionellen Programmen hin zum Cirque Nouveau. Zugleich lassen die Gassers keinerlei Zweifel daran, dass sie den klassischen Circus lieben. Das wurde selten so deutlich wie in dieser Saison. Denn neben den weiteren Akteuren von verschiedenen Artistenschulen ist Victor Rossi das prägende Gesicht dieser Produktion. Sein hervorragendes Können als Musikalclown und Jongleur aus einer Circusfamilie harmoniert exzellent mit dem Können der Künstler von Circusschulen. Und schließlich erzählt „Limbes“ nicht nur davon, dass auch eine Situation, in der alles verloren scheint, nicht ausweglos sein muss. „Limbes“ – Christopher Gassers Meisterwerk des Cirque Nouveau – ist auch eine Ode an den traditionellen Circus, dessen Welt der Künstler selbst entstammt.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll